Versteckte Aggressionen – die Wut der „Netten“

Sie schlägt keinen, sie schreit nicht, sie ist einverstanden mit fast allem, was man ihr vorschlägt, hat selbst kaum Ansprüche – was für eine nette Person! Leute, die mich nicht gut kannten, konnten schon mal diesen Eindruck von mir haben. Das hat sich zum Glück ein gutes Stück verändert. Nicht, weil ich nicht nett sein möchte, sondern weil ich weiß, wie viele versteckte Aggressionen hinter so einem Verhalten zu finden sind. In Wirklichkeit war es also eine Befreiung von wenig hilfreichen und oft alles noch verschlimmernden Aggressionen. Hier eine kleine Auflistung von Aggressionsformen, die ich alle irgendwie kennen gelernt, aber nicht alle auch selbst praktiziert habe.

• Passiv-aggressiv: Ein Paar hat Streit. Danach fährt sie noch nachts bei Schnee mehrere hundert Kilometer mit dem Auto nach Hause zu ihren Eltern. Auf die Nachricht ihres Freundes, ob sie gut angekommen wäre, antwortet sie nicht. Soll er sich ruhig schlecht fühlen und sich Sorgen machen! Sie greift ihn damit nicht aktiv an, bestraft ihn aber sozusagen durch die Unterlassung eines erwarteten Verhaltens. Ähnlich wäre es, sehr lange mit der Antwort auf ein Entschuldigungsschreiben zu warten. Oder nach einem Streit so lange unterwegs sein, dass der andere beginnt, sich Sorgen zu machen. Soll er oder sie sich doch ruhig noch etwas schlecht fühlen. Oder auch: Zwei Freundinnen treffen sich einmal pro Wochen zum Kaffeetrinken. Beim letzten Treffen sagte die eine etwas zur anderen, was sie kränkte. Die gekränkte Freundin spricht diese Kränkung aber nicht aus, wird vielleicht nur etwas kühler. Das nächste Treffen sagt sie kurz vorher ab. Soll die Freundin doch ruhig schön enttäuscht sein und sich ihren Tag neu planen müssen! Manchmal werden auch Informationen zurückgehalten. Nach einem Streit, einer Enttäuschung oder einer Kränkung bricht ein Freund oder Partner zum Bahnhof auf. Der oder die passiv-aggressive weiß, dass es dort momentan Bauarbeiten gibt und ein anderer Fahrplan gilt, behält es aber für sich: Soll er /sie doch ein paar Stunden am Bahnsteig stehen!

 

• Autoaggression: Aus Wut gegen sich oder andere, verletzt man sich selbst. Die Verletzung soll zum Beispiel den bestrafen, auf den man sauer ist – eine Anorexie kann etwa damit beginnen, dass ein Teenager das Essen verweigert, um seinen Eltern eine große Unzufriedenheit auszudrücken. Indem er / sie sich Schaden zufügt, möchte er / sie seinen / ihren Eltern weh tun. Auch kann es passieren, dass man mehr oder weniger diffuse Schuldgefühle ansammelt, durch nicht erfüllbare Erwartungen anderer oder an sich selbst und sich dadurch ein so enormer innerer Druck aufbaut, dass versucht wird, ihn mit selbstverletzendem Verhalten abzubauen. Selbstbestrafung durch Schmerzen. Generell lenkt natürlich ein großer körperlicher Schmerz von einem seelischen ab, allerdings ohne ihn zu beheben. Noch dazu kann man durch die körperlichen Verletzungen den seelischen Schmerz sichtbar machen und Aufmerksamkeit erregen, still um Hilfe rufen. Schließlich kenne ich dann noch die nichtbeabsichtigte Selbstverletzung. Mir ist es schon häufiger passiert, dass ich nach einem Streit zum Beispiel beim Abspülen ein Glas zerbrochen und mich daran geschnitten habe oder mich auch beim Kochen beim Schneiden mit dem Messer verletzt habe. Das mag stressbedingte Unvorsichtigkeit gewesen sein, aber auch eine gewisse Autoaggressivität: „Ich bin heute nicht vorsichtig – soll doch ruhig was passieren.“

• Neid, Missgunst: Was für böse Dinge kann man anderen Wünschen, wenn man sich vom Schicksal oder seinem Freundes- oder Familienkreis ungerecht behandelt fühlt. Man stelle sich vor, alle aus Neid gedachten Flüche und bösen Wünsche würden in Erfüllung gehen – da wäre wahrscheinlich nicht mehr viel übrig auf dieser Welt. Ich kann es nicht haben – dann soll es auch kein anderer haben. Oder wenn er schon so hübsch ist, dann soll er wenigsten keinen guten Job bekommen etc. Oder man freut sich plötzlich über das Unglück von jemandem. Das ist so böse! Aber so häufig zu finden (vgl. auch die Themen von Zeitschriften wie InTouch…). Und wohl vor allem dann die Hauptnahrung für den Selbstwert, wenn der nicht gerade der stabilste ist. Eine der größten Motivationen, den Selbstwert wieder halbwegs gerade zu biegen!

• Ständige Angst und Misstrauen den anderen gegenüber: Es ist nicht direkt eine Form der Aggression, aber letztendlich erhöht es die Bereitschaft zur Aggression, wenn man sich ständig durch andere bedroht sieht. Ich kenne zum Beispiel eine junge Frau mit einer sehr ausgeprägten Sozialphobie. Sie konnte bis vor kurzem kaum einen Satz sagen, ohne in die Außenperspektive zu wechseln, was dann in etwa so klingen konnte: „Mit den Zöpfen sehe ich aus wie Pippi Langstrumpf. Ok, Pippi ist hübscher. Nicht, dass ich sagen will, ich wäre irgendwie hübsch. Egal, ich fühle mich jedenfalls wie sie mit der Frisur.“ Sie musste bei fast allem, was sie sagte, noch einmal klarstellen, dass es auf keinen Fall überheblich gemeint war. Wahrscheinlich aus einer ständigen Sorge heraus, von anderen für überheblich, selbstüberschätzend und arrogant gehalten zu werden, wovon sie weit entfernt ist. Das mag wieder irgendwie nett klingen, aber eigentlich ist es den anderen gegenüber nicht fair (abgesehen davon, dass es auch ganz schön nervig sein kann). Im Umkehrschluss heißt es ja, dass sie den anderen immer unterstellt, negativ über sie zu denken. Natürlich kommt das vor, aber mit Sicherheit nicht in dem Maß.

• Völlige Abwertung einer Person nach Enttäuschung: Typisch Borderline, sagt man. Vor allem einem nahestehende Personen werden nach einer Enttäuschung komplett entwertet. Wenn es der Partner ist, wird sofort an Trennung gedacht. Oft ist die Entwertung mit dem Gedanken „Du verstehst mich eh nicht“ verbunden.

Und wie wird man sie los, die Aggressionen? Bei mir ist vieles besser geworden dadurch, dass ich gelernt habe meine Wünsche, Bedürfnisse, Erwartungen und Unzufriedenheiten halbwegs vernünftig zu kommunizieren. Früher habe ich meistens schon aufgegeben, bevor ich mit der betreffenden Person überhaupt darüber gesprochen habe. Ich habe mir vorgestellt, wie ich meinen Wunsch äußere und gleich mit dazu, wie mein Gegenüber sofort schlecht auf den Wunsch reagiert und ihn ablehnt. Was wohl auch eingetreten wäre, denn ich hätte mich schon beim Fragen schuldig gefühlt. Dann hätte ich spätestens an diesem Punkt aufgegeben. Heute weiß ich, dass man viel weiter kommt und es im Endeffekt für beide Parteien besser ist (denn sonst endet es ja nur in der Aggression), wenn man seinen Wunsch mit einem gewissen inneren Schwung präsentiert und mit Vorfreude. Und man darf auch einen Wunsch öfter zur Diskussion stellen, ein bisschen Penetranz zeigen oder einen Kompromiss anbieten (Ok, heute gehen wir nicht zusammen essen, aber vielleicht am Wochenende, wenn du mehr Zeit hast?). Die Haltung, mit der man hierbei auftritt, macht den großen Unterschied. Und die muss man ganz schön üben, wenn man sie nicht zu dem Zeitpunkt in der Kindheit gelernt hat, zu dem man sie hätte lernen sollen.

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